Der entspannte Weg, informiert zu bleiben
Zweimal am Tag – gewöhnlich beim Frühstück und abends – öffne ich mein persönliches Nachrichten-Dashboard und streiche durch einige Hundert Schlagzeilen. An Sonntagen oder Feiertagen weniger, an turbulenten Tagen mehr. Jede Sitzung dauert 15–20 Minuten. Nicht mehr.
Klingt das nach Stress? Ist es nicht. Stelle dir eine Abflugtafel am Flughafen vor: Dutzende Zeilen, ein klarer Zweck. Ich lese keine 800 Artikel; ich scanne die Konturen der Welt. Muster. Ausreißer. Leerstellen. Relevantes markiere ich für später – in Pausen, am Abend oder wenn ich Links für andere kuratiere.
Die meisten Schlagzeilen sind Hintergrundrauschen: regionale Sportmeldungen, Café-Listen, doppelte Agenturmeldungen. Ein Wisch, und sie verschwinden. Der eigentliche Wert liegt im Mosaik: zu sehen, was betont wird (und von wem) – und die Perlen einzusammeln, die in einem algorithmischen Feed untergingen.
Warum Schlagzeilen oft genügen
Überschriften und Anreißer erfüllen drei erstaunlich wirksame Aufgaben:
- Muster erkennen. Wenn fünf Medienhäuser dieselbe Sichtweise fahren, kannst du getrost weiterblättern – es sei denn, du brauchst mehr Tiefe.
- Signal statt Füllstoff. Lokalkolorit und Routine-Updates sind schnelle Skip-Kandidaten.
- Triage für Tiefe. Was bedeutsam, neuartig oder konträr zum Mainstream ist, bekommt ein Sternchen.
So vermeide ich die Falle von Tabs-in-Tabs-in-Tabs. Ich erhalte einen Überblick, ohne den Tag zu verlieren.
Perspektive ist ein Feature, kein Luxus
Sich nur auf eine einzige Quelle zu verlassen – so gut sie auch sein mag – bedeutet zwangsläufig Verzerrung. Keine Verschwörung, sondern schlicht redaktionelle Kultur. Das spürt man sofort, wenn man etwa deutsche Leitmedien neben der BBC und Al Jazeera liest – und für Nahost-Themen noch Ha’aretz hinzunimmt. Gleiche Ereignisse, drei Brillen, drei Sprachen, drei Prioritäten. Man muss gar nicht debattieren, wer „recht“ hat: Das Gehirn trianguliert, die Urteilsfähigkeit wächst, die Sicherheit wird demütiger.
Dasselbe Prinzip gilt jenseits der Geopolitik. Tech-Journalismus liest sich in Wired anders als in IEEE Spectrum. Fotografie-Themen erscheinen in PetaPixel ganz anders als im Wirtschaftsteil einer Tageszeitung. Und Hacker News hat seine eigene Gravitation – manchmal chaotisch, oft wertvoll. Genau diese Vielfalt ist der Punkt.
Der Tech-Stack: RSS schlägt alles
Im Kern steckt eine unscheinbare Technologie: RSS (und seine Geschwister Atom sowie JSON Feed). Sie ist dezentral, menschlich ausgerichtet und wohltuend berechenbar. Kein Ranking nach „Engagement“. Keine Empörungs-Incentives. Nur ein chronologischer Fluss dessen, was Redaktionen tatsächlich veröffentlichen.
Mal ist der ganze Artikel enthalten, mal nur ein langer Anreißer samt Titelbild, immer aber ein direkter Weg zur Quelle. Kein Mittelsmann, der entscheidet, was ich „sehen sollte“.
Fast alle Nachrichtenportale und Blogs bieten RSS an – WordPress von Haus aus, selbstverständlich auch dieser Blog hier als vollständigen RSS2-Feed.
Ich habe mir meinen eigenen Reader vor Jahren an einem ruhigen Wochenende gebaut – teils, um RSS-XML richtig zu verstehen, teils, weil PHP das Parsen strukturierter Daten elegant macht. Seitdem sammelt er zuverlässig. Davor nutzte ich TinyTinyRSS (mächtig, aber für mich nicht ganz ideal). Und ja: Auch die schicken Apps habe ich probiert. Hübsch – aber eben an bestimmte Geräte oder Ökosysteme gebunden.
Brauchst du alles nicht.
Wenn Du nicht selbst programmieren willst
Wer nur auf einem Gerät liest (z. B. einem iPad), ist mit bekannten Apps bestens bedient: NetNewsWire oder Reeder. Für Cross-Device-Sync und Webzugang sind Feedly oder Inoreader stark. Wer lieber selbst hostet: TinyTinyRSS erfüllt seinen Zweck, Eigenheiten inklusive.
Es geht nicht darum, mein Setup zu kopieren. Es geht darum, den eigenen Informationsfluss zurückzuerobern – mit minimaler Friktion. Einfach anfangen, später verfeinern.
Jenseits der Zeitungen: ein nützlicher Mix
Mein Feed ist bewusst international – Titel aus allen Kontinenten – und enthält zugleich Nischenquellen, die mich täglich weiterbringen:
- Tech & Engineering: Wired, IEEE Spectrum, Smashing Magazine.
- Fotografie & Medienhandwerk: PetaPixel (plus Blogs einzelner Fotografen).
- Community-Signal: Hacker News (mit Filtern und Skepsis).
- Monitoring im Alltag: Status-Seiten und Projekt-Feeds.
Genau in dieser Mischung liegt der Mehrwert. Man bekommt Überblick und die speziellen Ecken, die das Denken schärfen – ohne sich in sozialen Feeds zu verlieren.
(Praktischer Hinweis: Manche Top-Quellen wie AP News, Reuters oder Swissinfo bieten heute kein vollständiges RSS mehr. Ihre Newsletter-Briefings sind trotzdem nützlich. Ich halte sie getrennt vom E-Mail-Chaos und nutze sie wie geplante Dossiers.)
Warum ich nicht auf Newsletter und Social Feeds setze
Newsletter sind in Maßen in Ordnung, doch schnell wird das Postfach zum Friedhof guter Vorsätze. Social Feeds hingegen optimieren für Engagement, nicht für Klarheit, und zeigen oft nicht alles. Das ist ihr Job. RSS hingegen ist ein ruhiger Raum: chronologisch, konsistent, respektvoll mit der Aufmerksamkeit.
Und: Paywalls sind kein Feind. Selbst wenn eine Redaktion wie die NYT Artikel limitiert, zeigt der RSS-Feed die Schlagzeilen – die Landkarte. Sie hilft zu entscheiden, ob sich ein Abo wirklich lohnt, und wenn ja, bei wem.
Die Routine, praktisch
Morgens, Kaffee in der Hand: rund 350–450 frische Einträge. Ich scrolle. Meist geht es beim ersten Durchgang nur ums Tagesgefühl: Was passiert, was wird ignoriert, was unterschiedlich geframt? Markierungen für später (Lesen, Teilen, Archivieren). Ist etwas dringend oder unmittelbar relevant, öffne ich es sofort. Alles andere wandert ins „Second Brain“.
Abends dasselbe Muster. Wenn ein Großereignis war, tauchen jetzt die Gegen-Narrative auf. An ruhigen Tagen nehme ich mir mehr Zeit für längere Artikel, die ich morgens markiert habe.
Fünfzehn bis zwanzig Minuten. Zwei Touchpoints. Kein schlechtes Gewissen, wenn ich aussetze. Das Ganze ist ein Radar, keine To-do-Liste.
Was mir diese Praxis bringt
- Klarheit ohne Angst. Meine Stimmung hängt nicht von fremden Timelines ab.
- Globale Wahrnehmung. Die gleiche Story in verschiedenen Ländern macht Bias sichtbar und Nuancen greifbar.
- Serendipität. Nischen-Feeds füttern mich – Ideen, die Produkte, Texte, Beratungen inspirieren.
- Zeitgewinn. Schnelle Triage jetzt, tieferes Lesen dann, wenn es Sinn hat.
Und es hält meine kreative wie strategische Arbeit ehrlich. Wenn ich Kunden berate oder schreibe, will ich eine Weltsicht, die nicht nur von einer Kultur oder einem viralen Thread geformt ist. Diese Routine macht das möglich – in Minuten, nicht in Stunden.
Warum überhaupt ein eigener Reader?
Weil ich konnte – und weil ich das Fundament verstehen wollte. Mit RSS auf XML-Ebene zu spielen, Ausnahmen zu handhaben, krumme Feeds zu normalisieren und die UI an mein Denken anzupassen – das ist für mich wertvoll. Und ja: PHP eignet sich hervorragend fürs strukturierte Parsen mit wenig Overhead.
Aber das ist eine optionale Spielerei. Wenn du mit einer Standard-App schon ruhig und konsistent liest: perfekt. Solltest du später Lust auf mehr haben, wird das Basteln Spaß machen statt zu frustrieren.
Sobald ich die Zeit finde, meinen Reader fertigzuentwickeln, wird er als Open Source erscheinen – unter dem Namen NewsNest.
Fange klein an (800 müssen es nicht sein)
Wenn du das ausprobieren möchtest, kopiere nicht mein Volumen. Starte mit fünf bis zehn vertrauten Quellen. Ergänze zwei aus einer fremden Region. Und eine Nischenquelle zu einem Thema, das dir am Herzen liegt. Ein einziger Scan pro Tag, zehn bis fünfzehn Minuten. Mehr nicht.
Nach einer Woche: prüfen, was fehlt. Selektiv ergänzen. Nach einem Monat: rigoros ausmisten. Ziel ist keine Arche Noah der Quellen, sondern ein Muskel: scannen, spüren, markieren, weitergehen. Manche Feeds posten viel zu viel jeden Tag oder bieten weniger nützliche News.
Und ja: Es ist völlig okay, wenn du nie alles liest, was du speicherst. Dein „Später“-Ordner ist eine Bibliothek, kein Schwur.
Ich lese 800 Schlagzeilen am Tag, damit du es nicht musst. Nicht zum Angeben, nicht um mich in Informationen zu ertränken – sondern um ein sauberes Radar zu behalten und bessere Entscheidungen mit weniger Lärm zu treffen. RSS – in all seiner stillen, langlebigen Schlichtheit – macht das möglich. Ob schöne App, gehostete Plattform, TinyTinyRSS oder dein eigenes Wochenendprojekt: Am Ende zählt nur eins – Du besitzt deine Informationshoheit.
Fange klein an. Halte es leicht. Lasse Perspektiven sich stapeln. Und wenn eine Schlagzeile Ihre Zeit verdient: schenke ihr volle Aufmerksamkeit – zu deinen Bedingungen.
Dieser Beitrag wurde von mir selbst verfasst – mit Unterstützung durch KI (GPT-5). Die Illustrationen stammen von mir (erstellt mit Sora). Entdecke, wie KI deine Inhalte inspirieren kann – Neoground GmbH.
Noch keine Kommentare
Kommentar hinzufügen